Von Matthias Grass
KREIS KLEVE | Die Situation könnte gegensätzlicher kaum sein: Der Einzelhandel hat schwer zu leiden. Der Eventbereich – wie Messen und Ausstellungen im Wunderland Kalkar – ist in der Region über die Corona-Krise regelrecht eingebrochen, erholte sich im Oktober und liegt jetzt wieder am Boden. Die übrige Wirtschaft hingegen boomt. Und sie hat neue alte Freunde neu entdeckt: die Kollegen auf der anderen Seite der Grenze. Die Wirtschaft erspüre angesichts gerissener Lieferketten den Vorteil der Nähe zu den Niederlanden, sagt Freddy Heinzel, Honorarkonsul der Niederlande in Kleve.
Nicht nur der Konsul malte den Vorteil der Grenzregion in den schillerndsten Farben. IHK-Geschäftsführer Andreas Henseler erklärte, dass laut einer Blitzumfrage der IHK die Wirtschaft derzeit nur ein Problem habe: Wie halte ich die Produktion aufrecht. Und da habe man gelernt, dass man sich besser auf Beziehungen verlassen könne, die jahrelang erprobt seien. Dass ein „Blumentopf“ nicht zwingend aus Peking kommen muss, sondern auch in Amersfoort bestellt werden kann: „Das hat uns Corona deutlich gemacht“. Aber auch ohne Corona auf die Chancen der einst als Peripherie betrachteten Grenz-Region geschaut: „Wir haben hier eine klare Zukunftsperspektive“, sagt Henseler. Dazu liefert Heinzel die Zahlen: 177 Milliarden Euro wurden 2020 zwischen Deutschland und den Niederlanden verhandelt, der Kreis Kleve liege im Einzugsgebiet eines neuen niederländischen Ballungsraumes mit fast 1,5 Millionen Menschen. Da mache selbst eine für den Ort viel zu große Einkaufsarena in Kranenburg Sinn.
„Chancen des Grenzgebietes als deutsch-niederländischer Wirtschaftsraum“ war das Thema bei der Zukunftswerkstatt von Volksbank Kleverland und Rheinische Post, bei der Kleves Bürgermeister Wolfgang Gebing, Freddy Heinzel, Andreas Henseler sowie Eric Jansen, Geschäftsführer von Bedachungen Jansen, und Han Groot Obbink, Geschäftsführer Wunderland, sowie Christoph Thyssen von der Volksbank Kleverland unter der Moderation von Ludwig Krause, leitender Regionalredakteur der RP, diskutierten.
Auf der einen Seite stehen die schillernden Chancen, auf der anderen gibt’s aber auch Hemmnisse. So hat Eric Jansen für den großen niederländischen Generalunternehmer (GU) Tenbrinke zwar in Deutschland viele gute Aufträge. Doch wenn ein deutscher Handwerker in den Niederlanden oder ein niederländischer in Deutschland arbeiten will, wird’s kompliziert (auch wenn der niederländische Kunde unkomplizierter sei und deutsche Handwerker wegen ihrer guten Ausbildung gefragt seien, sagt Jansen). Das Problem sei der Behördendschungel mit seinem Wust von völlig unterschiedlichen Bestimmungen und Vorschriften diesseits und jenseits der Grenze. „Da müssen wir ran“, sagt Henseler mit Blick auf Handel und Handwerk, Kammern, Hochschulen und Schulen.
Ein weiteres Problem vor allem bei der Regionalplanung: „Aus Düsseldorfer Verwaltungs-sicht sind wir das Ende der Welt. Dagegen hat der Handel längst die gute Lage Kleves erkannt, wie das Essener Unternehmen Galeria zeigt: Es hat Kleve als Beispielstandort auserkoren“, sagt der Klever Bürgermeister. Dem pflichtet Heinzel bei: „Das Land hört ja nicht an der Grenze von NRW auf, hier haben wir in 30 Kilometer Entfernung mit Nimwegen und Arnheim den Anfang eines wirtschaftlichen Kerngebietes“, sagte er. Aber: „Wissen wir das?“, setzte Groot Obbink ein Fragezeichen dahinter – nicht, weil er die Chancen nicht sehe, sondern weil das außerhalb der Grenzregion nicht richtig wahrgenommen werde.
Jansen brachte die Unterschiede der „Systeme“ beispielsweise beim Bau auf den Tisch: Während in Deutschland jeder Handwerker einzeln ausgeschrieben werde, liege es in den Niederlanden in einer Hand beim „Aannemersbedrijf“. Zugleich seien auf niederländischer Seite deutsche Fensterbauer beliebt, Küchenbauer ebenso. Gutes Handwerk eben. „Wir müssen uns mehr bekannt machen“, sagt Jansen.
Aber ein noch größeres Problem einigt Handwerk und Industrie auf beiden Seiten: fehlender Nachwuchs, so Jansen. Und scherzt: „Die werden heute alle You-Tube-Star oder Influencer“. Das Handwerk müsse daran arbeiten, wieder mehr Nachwuchs zu gewinnen. Mit Blick auf wandelnde Märkte in Richtung Regionales lägen weitere Chancen: „Wir haben hier alles vor Ort“, so der Niederländer.
Zurück zum Einzelhandel: Der hätte in Kleve ohne Niederländer ein großes Problem, sagt Gebing. Groot Obbink setzt gezielt auf soziale Medien: „Wir sind auf Instagram, TikTok und Facebook unterwegs“. Der Einzelhandel sei im Umbruch. „Wir müssen uns hier Gedanken über die Erwartungshaltung der Kunden machen – auch mit Blick auf den Erlebniseinkauf“, sagt Henseler.
Deshalb gelte mit Blick auf die Niederlande für die künftigen Wirtschaftsförderer von Stadt und Kreis: „Sie müssen die Niederlande und die Region bestens kennen und sie müssen Niederländisch sprechen“, sagt Heinzel. Oder gleich Niederländer sein, fügt Groot Obbink an.